
Wien: Hildegard-Burjan-Messe im Zeichen der Staatstrauer
Als Gedenkmesse im Zeichen der dreitägigen Staatstrauer nach dem Amoklauf in einer Grazer Schule ist am Mittwochmorgen die traditionelle Hildegard-Burjan-Messe im Wiener Stephansdom gefeiert worden. Abgeordnete verschiedenster Parteien aus dem Nationalrat, dem Europaparlament und dem Wiener Gemeinderat haben bei dem Gottesdienst gemeinsam der Opfer und aller Betroffenen gedacht. "Graz war gestern Zentrum des Hasses. Heute ist es Zentrum unserer guten Gedanken, der Gebete, des Mitgefühls und des Spendens von Kraft", erklärte EU-Parlamentarier Lukas Mandl (EVP) bei den einleitenden Worten. Auch eine Trauerminute wurde zu Beginn um 8 Uhr gehalten, knapp zwei Stunden später fand die österreichweite Gedenkminute statt.
"Wir stehen zusammen, nehmen die Verantwortung wahr für unser Land", formulierte Wolfgang Gerstl (ÖVP) bei den Fürbitten. Judith Pühringer (Grüne) rief auf zum Gebet für die Opfer des Attentats, für die Familien, Freunde und Angehörigen der elf Getöteten und Verletzten. An die beteiligten Einsatzkräfte, Polizeibeamte, Rettungskräfte und Feuerwehrleute erinnerte Peko Baxant (SPÖ) - und betonte, diese hätten "vielleicht noch Schlimmeres verhindert haben" und bräuchten "unglaublich viel Kraft, weil sie die Bilder als erstes Sehen und sich um die anderen Menschen kümmern müssen".
Auch um "Weisheit und Einsicht" der Politiker wurde Gott angerufen, in einer Fürbitte von FPÖ-Mandatar Christian Schandor - damit ihre Aufgaben in Gerechtigkeit und Verantwortung erfüllen, für Frieden und Versöhnung eintreten. Besonders gedachten die Mitfeiernden weiters auch zweier verstorbener Parlamentsmitglieder, die in der Vergangenheit regelmäßig an der jährlichen Burjan-Messe teilgenommen hatten: Gabriela Moser (Grüne) und Andreas Karlsböck (FPÖ).
Der frühere Bundesrat und Nationalrat Karl-Arthur Arlamovsky (NEOS) trug die Lesung vor, einige der Abgeordneten ministrierten und auch der Zweite Präsident des Nationalrates, Peter Haubner (ÖVP), weitere Politikerinnen und Politiker sowie Vertreterinnen der Caritas Socialis nahmen an dem Gottesdienst am Hauptaltar des Stephansdoms und an der anschließenden Agape im Wiener Curhaus teil.
Friede, Gerechtigkeit und Wahrheit
Zelebrant P. Alois Riedlsperger erinnerte in seiner Predigt ebenfalls an das Grazer Attentat - und an die Selige Hildegard Burjan (1883-1933), an deren Gedenktag der Gottesdienst mit politisch Verantwortlichen stattfand. Burjan, eine in Görlitz geborene konvertierte Jüdin, die dem Wiener Landtag wie auch dem Österreichischen Nationalrat angehörte und später die Schwesterngemeinschaft Caritas Socialis gründete, ist die erste und bislang einzige Abgeordnete weltweit, die von der katholischen Kirche seliggesprochen wurde.
Der frühere Leiter der Katholischen Sozialakademie Österreichs betonte die zeitliche wie auch inhaltliche Nähe von Papst Leo XIII. - an den der jetzige Papst mit seinem Namen anknüpfte - und dessen große Sozialenzyklika "Rerum Novarum" aus dem Jahr 1891 sowie auch des Nachfolgeschreibens "Quadrigesimo Anno" von Pius XI. 1931 zu Burjans Leben und Wirken. "Volles Interesse für die Politik gehört zum praktischen Christentum", zitierte der Jesuit die Selige, die sich für die "Verkündigung des Evangeliums durch die soziale Tat" eingesetzt und zudem gefordert hatte, "dass die Barmherzigkeit von heute zur Gerechtigkeit von morgen werde". Neben den Forderungen nach Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zog Riedlsperger auch andere Parallelen zwischen Burjan und dem heutigen Papst. Leo XIV. habe gleich zu Beginn den Frieden hervorgehoben, für den die Selige als Voraussetzung das Gespräch und die konstruktive Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg genannt habe - was sie als christlichsoziale Abgeordnete mit ihren sozialdemokratischen Kolleginnen auch selbst vorgelebt habe. Auch die Suche nach Wahrheit und Neuorientierung sei für Leo XIV. gleichermaßen wie einst bei Burjan zentral. Das Kirchenoberhaupt lade zu einer gemeinsamen Suche nach der Wahrheit und einer aktiven und kreativen Weiterentwicklung der Soziallehre angesichts heutiger Herausforderungen wie Migration, Künstliche Intelligenz und Klimakrise auf.
Sozialpionierin und Ordensgründerin
Hildegard Burjan (geb. Freund) wurde am 30. Jänner 1883 in sächsischen Görlitz in eine liberal-jüdische Familie geboren. Mit ihrem Gatten Alexander übersiedelte sie 1909 nach Wien und begann sich hier, intensiv für die Randgruppen der Gesellschaft zu engagieren. Nach der Heilung von einer schweren Krankheit konvertierte sie zur katholischen Kirche und ließ sich taufen. 1912 gründete Burjan den "Verband der christlichen Heimarbeiterinnen" und 1918 den Verein "Soziale Hilfe".
Als Frauen 1919 erstmals das aktive und passive Wahlrecht ausüben konnten, zog Burjan als erste christlich-soziale Abgeordnete in das Parlament ein. Als verheiratete Frau und Mutter gründete sie im selben Jahr die geistliche Schwesterngemeinschaft Caritas Socialis mit dem Auftrag, soziale Not der Zeit zu erkennen und zu lindern. Burjan setzte sich entschieden für die Gleichberechtigung der Frau, für die Bekämpfung der Kinderarbeit und für die Überwindung sozialer Missstände ein. Obwohl sie nur kurze Zeit dem Parlament angehörte, galt sie schon bald als dessen "Gewissen". Burjan stellte sich dem Elend großer gesellschaftlicher Schichten und verschloss vor Jugendkriminalität, Verwahrlosung und Prostitution nie die Augen.
Als im Jahr 1920 Neuwahlen bevorstanden, zog sich Burjan aus Rücksicht auf ihre stark angeschlagene Gesundheit und wegen der zunehmenden antisemitischen Strömungen auch innerhalb ihrer Partei aus dem Parlament zurück, blieb aber weiter politisch aktiv. Hildegard Burjan starb am 11. Juni 1933 an einem Nierenleiden. Sie wurde als weltweit erste demokratisch gewählte Politikerin seliggesprochen - am 29. Jänner 2012 im Wiener Stephansdom.
Quelle: kathpress