
Psychologin: Pilgern zunehmend Form spiritueller Sinnsuche
Das Pilgern erlebt seit einigen Jahrzehnten einen deutlichen Aufschwung - trotz oder gerade wegen der zunehmenden Distanz vieler Menschen zu institutionalisierten Religionen: Das hat die Psychologin Bibiana Sonntag, die sich im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Universität Wien eingehend mit dem Phänomen des Pilgerns beschäftigt hat, am Donnerstag im Interview mit der Nachrichtenagentur Kathpress dargelegt. Gleichzeitig hat sich die Erscheinungsform des Pilgerns gewandelt: Es werde heute weniger als religiöse Übung gesehen, sondern vielmehr als persönliches, oft spirituelles Projekt.
"Die Zahl der Pilgerinnen und Pilger ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen", so Sonntag. Begünstigt worden sei dieser Trend etwa durch populäre Reiseberichte wie Hape Kerkelings "Ich bin dann mal weg" oder durch die europaweite Anerkennung des Jakobswegs als Kulturroute. Zugleich habe sich das Pilgern stark vom klassischen religiösen Hintergrund gelöst. "Ging es früher vor allem um Dank oder Bitte an Gott, steht heute zunehmend die individuelle Sinnsuche im Vordergrund", erklärte die an der Universität Wien im Bereich Testentwicklung tätige Psychologin.
Wobei die Gründe sehr unterschiedlich sind, manche sind auch touristisch oder sportlich motiviert. In ihrer Forschung erhofften sich die von ihr Befragten vom Pilgern vor allem, Abstand vom Alltag, Stille und Naturerleben zu finden, auch um Bewegung sowie das Bedürfnis nach Reflexion und persönlicher Weiterentwicklung ging es vielen. "Oft suchen heute Menschen beim Pilgern auch einen Kontrast zum digitalen Alltag", so die Expertin. Der Verzicht auf Technik, das Gehen im eigenen Tempo und das bewusste Auseinandersetzen mit körperlichen und geistigen Herausforderungen würden dabei als besonders bereichernd empfunden.
Doch auch psychologisch ließen sich positive Effekte durch das Pilgern feststellen, wie etwa gestärktes Selbstbewusstsein, Achtsamkeit, Gelassenheit und eine intensivere Selbstwahrnehmung. "Viele berichten davon, dass sie sich selbst neu oder anders erleben - gerade weil sie körperliche Anstrengung, Stille und Einsamkeit zulassen", so Sonntag.
Herausfordernd sei eine Pilgerreise dennoch sehr wohl: Viele würden ohne genügend körperlicher Vorbereitung losgehen oder hätten unrealistische Erwartungen. In ihrer Studie hat Sonntag zudem Langeweile als Forschungsgegenstand betrachtet. Pilgern ist demnach viel kurzweiliger als Gottesdienste, Meditation oder Yoga - außer, wenn es subjektiv als bedeutungslos empfunden wird sowie wenn es über- oder unterfordert. Gute Vorbereitung könne helfen, letzteres zu vermeiden und das Pilgern zu einer positiven Erfahrung machen, riet die Forscherin. "Wer sich für das Pilgern interessiert, solle sich vorab bewusst mit den eigenen Zielen und Bedürfnissen auseinandersetzen."
Quelle: kathpress